The Letter ist eine Horror Visual Novel die vom philippinischen Studio Yangyang Mobile entwickelt wurde. Bei solch einem Namen könnte man vermutlich ein billiges Handy-Spiel erwarten, das ist aber glücklicherweise nicht der Fall. Um ehrlich zu sein ist es in gewisser Weise sogar besser als viele japanische Visual Novels die ich bisher gelesen habe. Schon weil es eine hochwertige englische Sprachausgabe zu bieten hat die mich von Anfang bis Ende überzeugen konnte. Von den paar Sätzen mal abgesehen die aus irgendeinem Grund nicht synchronisiert wurden.
In Sachen Präsentation sticht das Spiel aber ebenfalls aus der Masse hervor. Anstatt auf statische Hintergründe und Sprites zu setzen, gibt es nämlich eine Vielzahl von Animationen die die Spielwelt zum Leben erwecken. So sieht man wie die Charaktere atmen, wie sich ihre Kleidung bewegt, wie Wolken über den Himmel ziehen oder Gardinen im Wind wehen. Und dazu kommen auch noch Lichteffekte die einiges zur Atmosphäre beitragen. In der Hinsicht ist es also vielen japanischen Visual Novels überlegen, auch wenn da teilweise noch mehr drin gewesen wäre.
Trotz der Masse an Animationen gibt es immerhin noch einige statische Elemente, darunter Hintergrundcharaktere die verglichen mit der restlichen Grafik ein bisschen hässlich aussehen, mit klobigen Gliedmaßen und glatten Gesichtern. Und mir ist auch sehr schnell aufgefallen, dass die Vögel die ab und zu vorbeifliegen absolut identisch sind, sowohl was das Aussehen als auch deren Flugbahn angeht. Bei größeren Pausen wäre das vermutlich kein Problem gewesen, aber sie tauchen einfach ständig auf.
Ansonsten ist die Grafik aber einfach nur fantastisch, von daher werde ich jetzt zur Story übergehen. Die ist nämlich ein bisschen problematischer. Sie handelt von einer Maklerin namens Isabella Santos, welche gerade dabei ist ein angeblich verfluchtes Anwesen zu verkaufen als sie einen mysteriösen Brief auf dem Dachboden findet. Dieser ist zwar nicht besonders gehaltvoll, besteht er doch nur aus blutigen Hilferufen sowie der Aufforderung ihn fünf Personen zu zeigen, aber kurz darauf erscheint auch schon der Geist der Isabella und ihre Freunde bis zum Ende plagen wird.
Und genau da zeigt sich auch schon eines der größten Probleme von The Letter (insofern man sich entscheidet hinzusehen): anstatt den Horror langsam aber sicher anschwellen zu lassen, wird man direkt mit einer langhaarigen und typisch japanischen Geisterfrau konfrontiert (deren Sounds mich ständig an Kayako aus Ju-On erinnert haben) der man mithilfe eines Quicktime Events entkommen muss. Diese QTEs tragen aber nur selten zur Spannung bei, weswegen ich glatt empfehlen würde sie direkt zu deaktivieren, auch wenn man sie per Tab überspringen kann.
Nach dieser Sequenz läuft das Spiel aber in etwa so ab: man sieht den Geist und sieht den Geist und sieht den Geist ... und häufig springt er einem Jumpscare-mäßig ins Gesicht. Der Horror-Aspekt des Spiels ist also sehr repetitiv. Dabei gibt es zumindest ein paar Szenen die tatsächlich versuchen eine gruselige Atmosphäre aufzubauen bevor irgendwas schlimmes passiert. Es gibt davon nur leider viel zu wenig. Und sie dauern nie sonderlich lange.
Das Verhalten dieser Geisterfrau ist außerdem sehr inkonsistent. Mal will sie einen töten, mal nur erschrecken, und obwohl sie quasi überall auftauchen und einen ewig jagen könnte, gibt es teilweise sehr lange Abschnitte in denen sie schlichtweg gar nichts macht. Ihr Verhalten gegenüber einem Charakter ist außerdem sehr klischeehaft ... und wird nie erklärt. Genau wie eigentlich alles was es mit dem Geist auf sich hat. Das muss man sich quasi selbst zusammenreimen da die Charaktere kaum Nachforschungen anstellen und die meisten Informationen aus Visionen stammen.
Am schlimmsten ist allerdings die Tatsache, dass der Horror irgendwie zweitrangig daherkommt. Wer eine wirklich gruselige Visual Novel voller spannender Momente erwartet, der wird also vermutlich enttäuscht werden. Der eigentliche Fokus der Geschichte liegt nämlich auf den Charakteren, was sowohl ein positiver, als auch ein negativer Faktor ist.
Jedem Charakter ist nämlich ein eigenes Kapitel gewidmet das dazu beiträgt mehr über ihre Träume, ihre Gefühle und natürlich ihre Vergangenheit herauszufinden. Und das ist eigentlich wunderbar, schon weil dadurch selbst ein totales Arschlich vermenschlicht wird. Ich konnte den schlussendlich zwar trotzdem nicht leiden, aber zumindest hatte er mehr zu bieten als auf den ersten Blick ersichtlich war.
Das Problem dieser Struktur ist aber die Tatsache, dass die Story dadurch mehrfach resettet wird und es dadurch keinen ordentlichen Spannungsbogen gibt. Und manche Szenen überlappen sich natürlich, auch wenn es nicht auch nur annähernd so schlimm ist wie die endlosen Rückblenden in Root Double.
Man muss also schon irgendwas mit den Charakteren anfangen können um Spaß am Spiel zu haben. Das war bei mir zwar durchaus der Fall, aber es konnte mich halt nicht dauerhaft an den Bildschirm fesseln. Umineko (welches mittlerweile komplett auf Steam erhältlich ist) war in dieser Hinsicht um Welten besser. Da konnte ich stundenlang am Stück lesen ohne dass es irgendwie langweilig wurde.
In gewisser Weise muss ich die Struktur von The Letter aber trotzdem loben. Wie oben zu sehen gibt es nämlich viele verschiedene Pfade die die Story beeinflussen. Diese ändern am Gesamtergebnis zwar nur wenig, dadurch kann man aber viele alternative Szenen freischalten die es in anderen Routen nicht gibt. Und es ist sogar möglich alle Charakter irgendwie umzubringen. Einen davon sogar mit zwei unterschiedlichen Methoden.
Die Instant Skip-Funktion ist in dieser Hinsicht sehr nützlich. Anstatt bereits gelesene Texte schnell durchrauschen zu lassen, kann man nämlich einfach zur nächsten Entscheidung oder zum nächsten ungelesenen Abschnitt springen. Ein richtiger Flowchart ala Zero Escape (wo man zu bestimmten Punkten in der Handlung springen kann) wäre aber noch viel besser gewesen. Das Grundgerüst dafür ist immerhin bereits vorhanden.
Da die Geschichte immer wieder aufs selbe Finale zusteuert (mit einer variablen Anzahl an Charakteren), habe ich mittlerweile aber aufgeben noch irgendwelche Entscheidungen probieren zu wollen. Alle Charaktere zu töten, alle zu retten, sowie das wahre Ende müssen reichen. Letzteres verdient diesen Namen aber kaum. Es ist nämlich auch nicht länger als die anderen Endings. Und am Endergebnis ändert sich so gut wie nichts. Von daher würde ich glatt dazu raten das Spiel nur zweimal durchzuspielen, mit jeweils unterschiedlichen Entscheidungen. Dann dürfte man am meisten vom Spiel mitnehmen können ohne dass es allzu langweilig wird.
The Letter ist eine wunderschöne und gut synchronisierte Visual Novel die vor allem durch ihre Charaktere überzeugen kann. Der Horror kommt aber leider viel zu kurz und ist trotz vieler atmosphärischer Momente zu repetitiv um wirklich gruselig zu sein. Die Jumpscares helfen da erst recht nicht.
Positive Aspekte von The Letter
- ein guter atmosphärischer Soundtrack
- bereits gelesene Szenen können komplett übersprungen werden
- wunderschöne Grafik mit vielen Animationen und Lichteffekten die die Welt zum Leben erwecken
- je nachdem wie man sich entscheidet kann man viele alternative Szenen freischalten, unterschiedliche Charaktere verkuppeln und sogar alle Charaktere umbringen
- da jedem Charakter ein eigenes Kapitel gewidmet ist, lernt man diese richtig gut kennen, wodurch selbst ein totales Arschloch vermenschlicht wird
- die Quicktime Events können sowohl deaktiviert als auch übersprungen werden
Negative Aspekte von The Letter
- dank des Kapitel-Systems wird die Story mehrfach resettet, was jeglichen Spannungsbogen zunichte macht
- der Horror kommt viel zu kurz und die Geschichte des Geistes muss man sich größtenteils selbst zusammenreimen
- die Quicktime Events können zwar zur Spannung beitragen, ich fand sie größtenteils aber fehl am Platz
- die Hintergrundcharaktere wirken etwas billig und es fliegen immer und immer wieder die selben Vögel über den Bildschirm